Der findigen Aufmerksamkeit von Herrn Kollegen Mark Mersiowsky ist der Hinweis auf ein Benedictus-Levita-Fragment zu verdanken, das Ende Juni 2004 bei Sotheby’s in London zur Versteigerung kam.
Im Auktionskatalog ist es wie folgt beschrieben:
„1 Benedict Diaconus, Capitularium collectio, in Latin, Fragments from a Manuscript of Vellum
(France or Italy, ninth century)
4 pieces, 186mm. by 138mm., 182mm. by 122mm., 74mm. by 195mm. and 71mm by 195mm., up to 26 lines, written in dark brown ink in a small and very skilful slightly forward sloping Carolingian minuscule, two headings in uncials, chapter numbers mostly set out in left-hand margins, edges defective where the pieces habe been cut to line a binding, creases and glue stains, other wear but relics of a very fine carolingian legal manuscript“.
(Sotheby’s Western Manuscripts and Miniatures, London 22 June 2004 S. 8)
Inhaltlich enthalten die vier Stücke, die von der Beinecke Rare Book and Manuscript Library der Yale University erworben wurden, Teile des 3. Buches und zwar:
Fragment 1r 16-26; | 1v 29-42. |
Fragment 2r 123-130; | 2v 130-140. |
Fragment 3r 240-242; | 3v 248-251. |
Fragment 4r 341-344; | 4v 353-356. |
Volltext der Fragmente und Abbildungen nach Fotos der Beinecke Rare Book and Manuscript Library (mit deren freundlicher Genehmigung. Unser Dank gilt dem Curator of Manuscripts Robert G. Babcock und Mark Mersiowsky für seine freundliche Vermittlung).
Zum Text, den Veronika Lukas einer näheren Untersuchung unterzogen hat, lässt sich relativ wenig bemerken. Immerhin zeichnen sich einige Linien deutlich ab, die einen überraschenden Befund nahelegen:
Der Text weist an manchen Stellen eine ganz klare Affinität zu Cod. Par. lat. 4636 (P17) auf, der ältesten und im ganzen auch besten Handschrift des Benedictus Levita, die zusammen mit Cod. Par. lat. 4634 (P15) die handschriftliche Stütze unserer Edition bildet. Als Belege seien folgende eindeutige Varianten genannt:
Ben. Lev. | 3, 130 | vertere P15 P17; korr.zu vetere Fragm.] vetere lectio communis |
3, 133 | annum] anno lectio communis | |
3, 241 | Si quis] Sicut lectio communis | |
3, 241 | honeris] oneris lectio communis | |
3, 242 | Sed] Quod lectio communis | |
3, 343 | expiaverint] expoliaverint lectio communis |
Dabei ist Si quis in 3, 241 eine exklusive Gemeinsamkeit mit P17, ebenso wie Sed in 3, 242. Auch die Rasur nach inperitis in 3, 250 (Fragment 3r) könnte als besondere Nähe zu dieser Handschrift gedeutet werden, denn dort wird ut peritis wiederholt: De inperitis, ut peritis ut peritis non …In diesem Fall müsste man freilich fast annehmen, das Beinecke-Fragment stelle eine direkte Abschrift von Par. lat. 4636 (P17) dar.
Dieser Verdacht wird durch eine andere Beobachtung gestützt: Die Fragmente weisen Rubriken auf, deren Graphie in einigen Fällen eigentümlich ist. Dies betrifft die Verwendung von Majuskeln. In der Regel verzichten die Fragmente auf eine Auszeichnungsschrift. Nur die Rubrik von 3, 341 ist ganz in Majuskeln gehalten, sonst sind es lediglich die Anfangsworte, z. B. in 3, 354 DE ABSENTIBUS non damnandis oder 3, 249 DE IUDICIBUS contra legem ... usw. Mehr als auffallend ist es, dass sich dies in P17 genauso verhält. Die einzige Ausnahme bildet 3, 241: Hier ist in P17 UT CAVEAT ... in Majuskeln ausgeführt, anders die Beinecke-Fragmente, sie verwenden normale Minuskeln.
Diese Übereinstimmungen können nicht auf Zufall beruhen, sie spiegeln ohne Zweifel graphisch die Vorlage wider. Damit rücken die Fragmente endgültig ganz nahe an P17 heran und gewinnen zusätzlich an Textwert: In P17 fehlt nämlich der Text von 3, 16–42, er kann jetzt zumindest teilweise und fast vollwertig ersetzt werden.
Es spricht also alles dafür, in diesen Fragmenten die Überreste einer Tochterhandschrift von P17 zu sehen. Eine solche Tochterhandschrift war aber auch der von Baluze hoch gepriesene Codex Bellovacensis, der verloren ist. Und damit stellt sich die Frage: Sollten die Fragmente Reste dieser bedeutenden Kapitularienhandschrift aus der Kathedralkirche von Beauvais sein?
Gerhard Schmitz, 09.11.05